Manfred Hocke:
Archibald Einfalt und die Mauer

Als Archie mit seiner Mutter 1946 nach dem Krieg, dem totalen, elfjährig aus Breslau kommend nach einigen Irrfahrten durch das zerstörte Deutschland in einem Dorf in der Lausitz zwischen Bautzen und Bischofswerda abgerissen, hungrig und obdachlos landete, spürte er instinktiv, dass er nicht auf Dauer dort bleiben würde. Er war ein Stadtkind, das viel durch die alte Stadt am Oderstrom gestromert war, immer auf der Suche nach Abwechslung, er war ein Schlüsselkind. Das Dorf langweilte ihn, das Wort "Flüchtlingskind" nervte ihn, er wollte wieder in der Anonymität einer Großstadt untertauchen. Es zog ihn über Bautzen und Bischofswerda magisch und unwiderstehlich nach Berlin. Über Dorfschule und Gymnasium erreichte er sein Ziel und wurde Student an der Humboldt-Universität in Berlin, der aufregenden Hauptstadt mit einem atemberaubenden kulturellen Angebot, erschwinglich und volksnah, Theater, Oper, Konzert, auch manches Jazz-Konzert in Berlin-West.

Aus der Breslauer Zeit gab es eine Tante Trudel in Reinickendorf, die mit ihrem Mann schon vor 1945 nach Berlin kam, wohin es Onkel Walter in einen Rüstungsbetrieb verschlagen hatte. Als Archie in Berlin studierte, besuchte er gern diese intelligente Frau, um mit ihr über das alte Breslau zu reden und etwas über seine Altvorderen zu erfahren, die bis Amerika in alle Winde zerstreut waren. Seine Eltern wollten über ihre Heimatstadt nicht mehr reden, sie hatten diesen Teil ihres Lebens abgehakt, der nicht der glücklichste war, gekennzeichnet durch Arbeitslosigkeit, Armut, Nazi-Herrschaft und Krieg. Und so war er ganz stolz, als er eines Tages die liebe Tante Trudel in seine Wohnung einladen konnte, in den Ostteil der Stadt, nach Baumschulenweg. Dort hatte er eine AWG-Wohnung bekommen (AWG = Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft), im Frühjahr 1961, vier Räume, Neubau, Platte, klein, aber mein, unkündbar, Bad, Balkon, Einbauküche, Ofenheizung, 3 600 Anteilzahlung, 55 Mark Miete, für sich, seine Frau und sein Töchterchen. Eigentlich lief die Wohnung auf den Namen seiner Frau, die am Bühnenverlag arbeitete, er rackerte in Adlershof beim Fernsehen als Regieassistent und Dramaturg. Die Gehälter waren eher bescheiden, aber es reichte fürs Leben. Der preiswerte Kindergarten war vor der Haustür, die Betriebskantinen kochten gut und billig für Mark und Pfennige und schmackhaft dazu.

Tante Trudel kam am Samstag, den 12. August, nach vielem Hin und Her, der Onkel wollte nicht in den Osten. Sie fand die Wohnung hell und praktisch, die Küche schön groß, die Aussicht vom Balkon herrlich mit dem Blick auf die Schrebergärten im Westen! "Blick ins Grüne hatten wir nie in Berlin", rief sie aus, der Onkel bemängelte die Bauausführung und das Flachdach mit Dachpappe drauf. Man saß auf dem Balkon und philosophierte nach Kleinbürgerart. "Nicht alles ist schlecht bei euch im Osten", krähte der Onkel nach Genuss von Adlershofer Wodka, "für diese Miete kriegste die Wohnung nicht bei uns; Gertrud, aber der Kaffee ist zu teuer und die Propaganda hält kein Mensch aus", sagte er mit Blick auf die "Aktuelle Kamera", die er aber sehen wollte zu später Stunde. "Hauptsache es kommt nicht wieder Krieg," sagte Tante Trudel, leicht verärgert über die Meckerei ihres Mannes. "Alles andere ist nicht so wichtig, aber Hauptsache keinen Krieg mehr! Aber wenn man Radio hört, könnte man meinen, es geht jeden Augenblick wieder los! Da braucht nur einer auf den Knopf zu drücken." "Der Ami und der ganze Westen stehen bis an die Zähne bewaffnet hinter uns, die ganze freie Welt", sagte Onkel Walter giftig, "da wird sich der Russe hüten, einen Krieg vom Zaun zu brechen!" "Den letzten hat dein Adolf vom Zaun gebrochen", sagte Tante Trudel und schlürfte Kaffee. "So übel ist der Ostkaffee auch nicht und der Blick über die Schrebergärten im Westen gefällt mir, die trinken auch bloß Kaffee." Onkel Walter probierte ächzend einen Nordhäuser Doppelkorn.

Als Archie Tante und Onkel zur S-Bahn brachte, wunderten sie sich, dass so spät in der Nacht noch so viele Menschen unterwegs waren und vor allem so viele LKWs. Nächsten Tag, am 13. August, wussten sie warum und es sollte 26 Jahre dauern, ehe er Tante Trudel als Witwe wiedersehen konnte, besuchsweise mit DDR-Paß. Aber es hatte keinen Krieg gegeben, mit und um oder wegen Deutschland! Bitter war es trotzdem. Aber seine Wohnung war dem Zugriff von Miethaien entzogen in dieser Zeit.

Am 13. August am Vormittag kam sein Freund, der Grafiker, der unter ihm wohnte, atemlos hochgestürmt, schrie ihn an: "Und was jetzt? Eine Mauer vor der Nase? Wer soll das aushalten? Noch ist es Zeit! Nichts wie weg!" Manfred war zur gleichen Zeit wie Archie eingezogen, hatte eine junge Frau, nicht berufstätig, mit der er zwei kleine Jungs hatte. Manfred, der ein guter Schriftgrafiker war, neigte manchmal zum Alkohol. Er war ein weicher Typ, gelegentlich schwermütig. Archie hatte Angst um seinen Freund, er wollte ihn nicht verlieren, auch fürchtete er, Manfred könnte im Konkurrenzkampf im beinharten Westgeschäft untergehen. Was würde aus seinen Jungs? Er hielt ihn mit gewichtigen Argumenten von seinem überstürzten Vorhaben ab. Später fragte er sich, ob es wohl richtig war. Eines hatte sich als richtig herausgestellt: Den Mauerbau hatte der Grafiker ganz gut überstanden und später in der DDR freiberuflich sorgenfrei gelebt, den Mauerfall hingegen hat er nicht überstanden. Keine Aufträge mehr, für Festeinstellung zu alt, Abstieg beruflich und sozial, Alkohol, Krankheit, Wohnungsauflösung, Heimeinweisung, Tod. Ein Einzelfall? Ein Einzelschicksal? Überhaupt: Schicksal?

Wenn Archie an seinen toten Freund Manfred dachte, wurde ihm weinerlich zumute. Manfred starb am 13. August 1998. Hätte er ihn am 13. August 1961 nicht zurückgehalten, hätte er dann ein vielleicht längeres Leben gehabt oder ein noch kürzeres? Wer weiß schon, was richtig für den einzelnen ist, er selber? Wer weiß, was das Richtige für ein ganzes Volk ist, es selber? Und wie kam es dann zu Faschismus und Massenmord? Die einzigen Menschen, die wissen, was gut für das Volk ist, den "großen Lümmel", das sind die Politiker, die sich in jeder Talkshow gegenseitig um so lauter niederdiskutieren, je näher die Wahlen heranrücken. Gelegentlich hört Archie ihnen zu, aber selten ohne Entrüstung, die sich bis zur Wut steigern kann, aber er schaltet nicht ab, er will sich kein X für ein U vormachen lassen und endlich begreifen, warum die Ökosteuer die Lohnnebenkosten senkt oder so ähnlich. Wenn er so versucht die Klugen und Besserverdienenden, die Reichen und Schönen, die Millionäre, die Aufsichtsratsvorsitzenden, die Banker etc., die "politische Klasse" - ein schöner Begriff -, die Ministerpräsidenten, die Theologieprofessoren zu verstehen, wird ihm klar, dass diese Klasse schon immer hinter einer Mauer gelebt hat, offen oder versteckt, sichtbar oder unsichtbar, hinter einer sehr hohen Mauer! Auch jetzt und hier und heute! Mauern als Dauereinrichtung können nicht gut sein, grübelte Archie - irgendwann müssen sie weg. Das hatte er schon eher begriffen.

Aus: Unsere Zeit - Zeitung der DKP, Nr. 32 v. 10.08.2001


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