Erich Honecker
Der 13. August 1961

Erich Honecker: Aus meinem LebenNach der Rückkehr vom Studium in Moskau rückten Fragen der Militärpolitik und der Landesverteidigung ins Zentrum meiner Tätigkeit. Im Herbst 1956 wurde ich Sekretär der vom Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED, Walter Ulbricht, geleiteten Sicherheitskommission des Zentralkomitees unserer Partei. 1960, als der Nationale Verteidigungsrat der DDR gebildet wurde, dem Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzender ebenfalls vorstand, berief mich die Volkskammer der DDR zum Sekretär des höchsten staatlichen Organs, das die gesamte Landesverteidigung zu koordinieren hat. Diese Tätigkeit führte mich oft mit dem damaligen Minister für Nationale Verteidigung, Willi Stoph, heute Vorsitzender des Ministerrates der DDR, und seinen Stellvertretern Friedrich Dickel, heute Minister des Innern der DDR, Heinz Hoffmann, jetzt Verteidigungsminister, und Heinz Keßler, jetzt Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee der DDR, zusammen, ebenso mit dem Marschall der Sowjetunion A. A. Gretschko, der von 1953 bis Ende 1957 die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland kommandierte. Auch in späteren Jahren begegnete ich ihm häufig wieder, als er Oberkommandierender der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages und dann Minister für Verteidigung der UdSSR war.

Am 18. Januar 1956 hatte die Volkskammer der DDR das Gesetz über die der Nationalen Volksarmee (NVA) und des Ministeriums für Nationale Verteidigung beschlossen. Den Aufbau unserer Nationalen Volksarmee unterstützte ich nach Kräften. In meiner Tätigkeit auf militärpolitischem Gebiet ging ich davon ans, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR es erforderten und ermöglichten, nationale Streitkräfte zu schaffen und zur Sache der gesamten Arbeiterklasse und der breitesten Schichten der Werktätigen zu machen. Die objektiv gegebene Einheit von Arbeiterklasse, Volk und bewaffneten Kräften mußte bewußt als unversiegbarer Kraftquell für den militärischen Schutz unserer Republik genutzt werden. Dem internationalen Charakter der Arbeiterklasse und den Fortschritten bei der Herausbildung der sozialistischen Staatengemeinschaft entsprach es, daß wir den militärischen Schutz des Sozialismus in der DDR von Anbeginn als eine kollektive, internationalistische Aufgabe betrachteten. Nur in engster Kampfgemeinschaft mit der UdSSR und ihrer Militärmacht, mit den anderen sozialistischen Bruderstaaten und ihren Armeen konnte sie gelöst werden.

Neben dem Charakter des Staates und seiner Politik, dem die Streitkräfte dienen, ist natürlich die Besetzung der führenden Kommandeurstellungen für das Wesen und die Ziele einer Armee entscheidend. Im Zentralkomitee der SED und seinem Politbüro sowie im Nationalen Verteidigungsrat und im Ministerrat der DDR schenkten wir dieser Frage größte Aufmerksamkeit. Die Vorbereitung grundsätzlicher Kaderentscheidungen und entsprechender Beschlüsse für das Politbüro oder den Nationalen Verteidigungsrat gehörten zu meinem Aufgabenbereich. Von den Generalen und Admiralen, die in den Wochen und Monaten des Aufbaus der Nationalen Volksarmee Dienst taten, waren etwa 70 Prozent vor dem Jahre 1933 aktiv in der Arbeiterbewegung tätig gewesen. Viele von ihnen hatten sich im antifaschistischen Widerstandskampf bewährt. Fast jeder dritte war während der Hitlerdiktatur in Zuchthäuser und Konzentrationslager geworfen worden.

In der Arbeit mit den Kadern sah ich eine meiner wichtigsten Verpflichtungen. Ihr widmete ich viel Sorgfalt und Geduld. Oft erinnerte ich mich dabei, mit welcher Herzlichkeit und Wärme, mit wieviel Fingerspitzengefühl, aber auch - so angebracht - mit Strenge Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und andere Genossen zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen haben. Ende 1956, als wir die Verbände und Truppenteile im wesentlichen aufgestellt hatten, waren von den Offizieren und Generalen ihrer sozialen Herkunft nach rund 82 Prozent Industrie-und Landarbeiter, etwa drei Prozent Bauern, zwölf Prozent Angestellte und über drei Prozent Angehörige der Intelligenz sowie sonstiger Berufe.

Die Nationale Volksarmee der DDR entstand als Armee des Antifaschismus und des Antimilitarismus, als Armee des Friedens, und dem ist sie treu geblieben. Sie verkörpert den radikalen Bruch mit allem Reaktionären in der deutschen Geschichte. Sie setzt die fortschrittlichen Traditionen der Heere des deutschen Bauern-krieges 1524 bis 1526, des Befreiungskrieges 1812/1813, der Novemberrevolution 1918/1919, der Arbeiterwehren und der Roten Ruhrarmee zur Abwehr des Kapp-Putsches 1920, der deutschen Interbrigadisten 1936 bis 1939 in Spanien und der deutschen Antifaschisten von 1933 bis 1945 fort. Heute tragen viele Verbände, Truppenteile, Einheiten, Schulen, Kasernen, Schiffe und Boote der Nationalen Volksarmee Ehrenn amen revolutionärer Vorkämpfer.

Der Sozialismus braucht Offiziere, die über politische Erfahrungen und Kenntnisse, ein hohes Maß an militärischem Wissen und Fertigkeiten verfügen. Mit ihrer Klasse müssen sie eng verbunden sein, die Soldaten lieben und sich um jeden einzelnen sorgen. Da und dort anzutreffenden Auffassungen, daß in der Armee das Verhältnis zu den Menschen nicht so wichtig sei, weil sich das gesamte Leben auf der Grundlage von Befehlen abspiele, trat ich entschieden entgegen. Es war nicht schwer, anhand der Praxis nachzuweisen, daß die Aufgaben dort am besten erfüllt werden, daß dort eine hohe Einsatz- und Gefechtsbereitschaft erreicht wird, wo die Kommandeure sich intensiv mit den Soldaten befassen. Gerade wegen der notwendigen Härte des Dienstes sind die Offiziere angehalten, sich stets um die Belange, um das Wohl ihrer Untergebenen, um ihre Probleme und Nöte zu kümmern.

Eine solche Führung in der NVA zu gewährleisten, stellte das vorrangige Anliegen der Parteiorganisationen der SED in den Streitkräften dar. Wir wußten von W. I. Lenin und aus den Erfahrungen der KPdSU, daß die Führung durch die marxistisch-leninistische Partei auch für die Armee eine Schlüsselfrage ist. Im November 1957 erklärte das Politbüro zu unserer Militärpolitik: "Die Stärke der mit den modernsten Waffen und technischen Mitteln ausgerüsteten Armee des sozialistischen Staates liegt in der konsequenten Durchführung der Beschlüsse der Partei, der unlösbaren Verbundenheit mit dem werktätigen Volk." Wenige Monate später, am 14. Januar 1958, faßte das Politbüro nach eingehender Beratung den bedeutsamen Beschluß "Über die Rolle der Partei in der Nationalen Volksarmee". Hier flossen die Erfahrungen zusammen, die wir in zwei Jahren des Aufbaus der Streitkräfte gesammelt hatten. Dieses Dokument ist, was seinen prinzipiellen Gehalt betrifft, bis heute gültige Richtschnur.

Die Arbeitspläne des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees wie auch die Berichte des Politbüros auf den Tagungen des Zentralkomitees in all den Jahren weisen aus, daß es keine wichtige Frage der Stärkung der Streitkräfte und der Landesverteidigung der DDR gab, die nicht im Kollektiv beraten und gemeinsam entschieden worden wäre. So blieb es bis heute, und daran wird sich auch künftig nichts ändern.

Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, herangereifte Probleme in den Einheiten, Truppenteilen und Verbänden zu untersuchen. Oft hielten sich meine Mitarbeiter wochenlang bei der Truppe auf. Sie berieten sich mit Generalen, Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten, mit Funktionären der Grundorganisationen der SED und der FDJ. Zur Diskussion standen die Ergebnisse der politischen und militärischen Ausbildung, das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten, zwischen Vorgesetzten und Unterstellten. Gewöhnlich sprachen wir auch über die Verbindung der Truppe zu Arbeitern sozialistischer Großbetriebe und zu Genossenschaftsbauern der damals noch jungen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sowie über die Kontakte zu sowjetischen Waffenbrüdern. immer spielten die Dienst- und Lebensbedingungen der Armeeangehörigen eine wichtige Rolle.

Deutlich erinnere ich mich einer Aussprache mit Kommandeuren und Leitern der Politischen Verwaltungen der Militärbezirke und Teilstreitkräfte der Nationalen Volksarmee im Frühjahr 1957. Auch dem waren Untersuchungen vorausgegangen, so daß wir ein reales Bild von der tatsächlichen Lage in den jeweiligen Bereichen besaßen. Die so gewonnenen Erkenntnisse lagen der Eggersdorfer Tagung am 12./13. Juni 1957 zugrunde, an der Walter Ulbricht, Willi Stoph, Hermann Matern und ich mit weiteren leitenden Funktionären der SED und der Nationalen Volksarmee teilnahmen. Wir berieten darüber, wie die Volksarmee in kürzester Zeit zu stärken ist. Nicht selten luden wir Parteisekretäre und Kommandeure aus der Truppe auch zu Sitzungen der Sicherheitskommission des Zentralkomitees ein, um ihre Meinung zu bevorstehenden Entscheidungen näher kennenzulernen.

Besonderes Augenmerk widmete ich zu jener Zeit auch der Grenzpolizei, die Mitte der fünfziger Jahre den Auftrag erhielt, sich zu einer schlagkräftigen Grenztruppe zu entwickeln. Es ist eine alte Erfahrung, daß sich Grenzprovokationen und Grenzkonflikte sehr rasch zu einer militärischen Auseinandersetzung von unkontrollierbarem Ausmaß auswachsen können. Nicht wenige Provokationen gab es an unserer Staatsgrenze, die nur deswegen nicht zu größeren Konflikten führten, weil unsere Grenzsoldaten besonnen handelten. Solche Provokationen entsprangen letztlich einer Politik, die sich hartnäckig weigerte, die Grenzen der DDR als Staatsgrenzen eines unabhängigen, souveränen Staates anzuerkennen und zu respektieren.

21 Angehörige unserer Grenzpolizei und der späteren Grenztruppen wurden in Ausübung ihres Dienstes von der BRD oder Berlin-West aus meuchlings ermordet. Was lag näher, als zu gewährleisten, daß die Ausrüstung und Ausbildung unsere "Grenzer" jederzeit in die Lage versetzte, die Staatsgrenzen der DDR gegen alle Verletzungen und Provokationen zu sichern. Darum setzte ich mich dafür ein, die Dienst- und Lebensbedingungen unserer Grenzsoldaten zu verbessern, damit sie der Schwere des Dienstes bei Tag und Nacht, bei Wind und Wetter gerecht werden konnten.

Mit dem Aufbau der Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik erhöhte sich auch die Rolle der Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Viel wurde über sie in Massenmedien des westlichen Auslandes geschrieben und gesprochen. Dabei reicht die Skala von geringschätziger Abwertung bis zu übersteigerter Einschätzung als einer zusätzlichen regulären Armee. Wie liegen die Dinge wirklich? Entstanden - wie ich bereits schrieb - zur Verteidigung der Republik gegen Anschläge der Konterrevolution im Sommer 1953, sind die Kampfgruppen die unmittelbaren bewaffneten Organe der Arbeiterklasse in den Betrieben. Klassenbewußte Arbeiter haben sich in ihnen zusammengeschlossen und meistern neben ihren Aufgaben in der Produktion, im Beruf das Waffenhandwerk zum Schutz ihrer Errungenschaften.

Die Kampfgruppen werden, beginnend auf örtlicher Ebene bis hin zum Zentralkomitee, von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands angeleitet und geführt. Über die unmittelbare Verteidigung ihrer Betriebe hinaus beauftragten wir sie beim Aufbau unserer Landesverteidigung Ende der fünfziger Jahre damit, die Errungenschaften der Werktätigen in Stadt- und Kreisgebieten wirksam zu schützen. Uns lag stets daran, die Einsatzbereitschaft der Kampfgruppen zu erhöhen, entschlossene, unbeugsame Kämpfer zu erziehen, die Ausbildung der Hundertschaften ständig zu verbessern und die Qualifikation ihrer Kommandeure zu fördern. Selbstverständlich wird beim Eintritt in die Kampfgruppen das Prinzip der Freiwilligkeit gewahrt.

Wiederholt weilte ich bei der Ausbildung und bei Übungen unter den Kämpfern. So manchen Kommandeur kenne ich seit mehr als zwei Jahrzehnten persönlich. Immer wieder beeindruckten mich die hohe Einsatzbereitschaft der Angehörigen der Kampfgruppen und ihr Vertrauen zu unserer Partei. Bereits nach wenigen Jahren konnte ich auf dem 7. Zentralen Lehrgang für Kampfgruppenkommandeure in Schmerwitz am 20. April 1959 feststellen: "Die hohe politische Reife und Moral, die feste Disziplin und grenzenlose Ergebenheit für die Sache des Sozialismus sind die Gewähr dafür, daß die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der Deutschen Demokratischen Republik auch in Zukunft alle ihnen übertragenen Aufgaben in Ehren erfüllen werden."

Daß unsere Anstrengungen für den militärischen Schutz der DDR unerläßlich waren, sollte sich bald erweisen. Nach einigen Hoffnungsschimmern auf eine internationale Entspannung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zogen 1960/1961 erneut die drohenden Wolken eines Krieges herauf.

Die Bundeswehr der BRD hatte unterdessen eine Stärke von über 350000 Mann erreklit. In den Manövern der Bundeswehr und der NATO von 1959/1960- "Side Step", "Hold Fast", "Winterschild", "Wallenstein" und wie sie alle hießen - wurde die Aggression gegen die DDR geprobt. Im März 1961 erklärte die in der BRD erscheinende "Wehrpolitische Rundschau", die Möglichkeiten des Westens seien ausgeschöpft, vom Osten auf friedlichem Wege ein Nachgeben zu erreichen. Es bleibe nur die Möglichkeit einer gewaltsamen Änderung des Status quo oder "die Aufgabe eigener Prinzipien". Auf einer Pressekonferenz in den USA erklärte der damalige Verteidigungsminister der BRD, Franz Josef Strauß, man müsse auf eine Art Bürgerkrieg in Deutschland vorbereitet sein.

Anfang Juli 1961 wurde in Bonn mit dem Bericht des "Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands" erneut ein umfassender Plan für den "Tag X" vorgelegt. Er füllte ein ganzes Buch und enthielt genaue Anweisungen, wie sich die westdeutschen Monopole stufenweise der Volkswirtschaft der DDR bemächtigen könnten wie die SED beseitigt und die Gewerkschaften ihrer Rechte beraubt werden sollten. Die Zeitung "Kölnische Rundschau" forderte am 10. Juli 1961 dazu auf, "alle Mittel des kalten Krieges, des Nervenkrieges und des Schießkrieges anzuwenden... Dazu gehören nicht nur herkömmliche Streitkräfte und Rüstungen, sondern auch die Unterwühlung, das Anheizen des inneren Widerstandes, die Arbeit im Untergrund, die Zersetzung der Ordnungsgewalt, die Sabotage, die Störung von Verkehr und Wirtschaft, der Ungehorsam, der Aufruhr..." Wenige Tage später eilte der damalige Bundesminister für "gesamtdeutsche Fragen", Ernst Lemmer, samt einem Mitarbeiterstab nach Berlin-West, um von dort aus die psychologische Kriegführung gegen die DDR zu steuern. Die NATO-Verbände in Europa wurden in Alarmbereitschaft versetzt.

Die westlichen Massenmedien entfachten eine üble Hetze gegen die DDR, machten - in fatalem Gleichklang zum August 1939 - mit "Flüchtlingsströmen" und "Flüchtlingselend" Stimmung für eine Aggression. Grenzverletzungen und Grenzprovokationen häuften sich. Um Unruhe unter der Bevölkerung zu stiften, betätigten sich Saboteure im Berliner Vieh- und Schlachthof am Stadtbahnhof Leninallee und in der Humboldt-Universität im Zentrum Berlins als Brandstifter.

Seit zwölf Jahren war die Grenze der DDR zu Berlin-West - mehr oder weniger auch zur BRD - offen. Es war, genauer gesagt, eine offene Grenze der gesamten sozialistischen Gemeinschaft zur kapitalistischen Welt. Welche Gefahren für den Frieden dies in sich barg, trat immer deutlicher zutage. Denn die Situation in und um Berlin-West konnte jederzeit ausgenutzt werden, um gefährliche internationale Spannungen und Konflikte hervorzurufen.

Das mitten in der DDR gelegene Berlin-West hat eine Grenze zu unserer Republik von 162 Kilometern Länge. Rund 45 Kilometer davon verlaufen zwischen Berlin-West und der Hauptstadt der DDR. Bis zum August 1961 war diese Grenze weder gesichert noch überhaupt zu kontrollieren. Sie verlief inmitten von Straßen, Häuserblocks, Laubenkolonien oder Wasserwegen. Bis zu einer halben Million Menschen passierten sie täglich. Aber Berlin-West stellte nicht irgendein Territorium innerhalb der DDR dar, sondern nach den Worten seiner regierenden Politiker die "billigste Atombombe" den "Pfahl im Fleische des Ostens", die "Frontstadt" des kalten Krieges. Dort trieben nicht weniger als 80 Spionage- und Terrororganisationen ihr Unwesen. Währungsspekulationen wurden von dort in großem Stil betrieben, um die Wirtschaft der DDR zu zersetzen. in Berlin-West hatten sich Zentralen für die Abwerbung von Arbeitskräften aus der DDR etabliert. Ja, man konnte es begründet den Umschlagplatz eines regelrechten Menschenhandels nennen, für den gewissenlose Manager hohe Kopfprämien kassierten. Mitte 1961 hielten aggressive Kreise in der BRD und ihre Verbündeten in einigen anderen NATO-Ländern die Zeit für gekommen, erneut Unruhen in der DDR auszulösen. Mit einer als "innerdeutsche Polizeiaktion" getarnten Operation der Bundeswehr wollten sie den Provokateuren "zu Hilfe" kommen.

Wir verfolgten diese bedrohlichen Vorgänge mit der gebotenen Wachsamkeit. Konnten wir tatenlos zusehen, wie unter Ausnutzung der offenen Grenze, in einem Wirtschaftskrieg sondergleichen, unsere Republik ausgeblutet wurde? Konnten wir tatenlos bleiben, da im Herzen Europas eine Situation entstanden war, die mit kaum noch verheimlichten Mobilmachungen und gesteigerter Kriegshysterie auf westlicher Seite dem Vorabend des zweiten Weltkrieges glich? Konnten wir die Hände in den Schoß legen, wenn Berlin-West als "Brückenkopf" des kalten Krieges ausgebaut wurde und seine "Störfunktion" immer ungehemmter wahrnahm? Hätte das Volk der Deutschen Demokratischen Republik, hätten die friedliebenden Völker Europas und der Welt es uns verziehen, wenn wir die Aggressoren nachgerade durch Tatenlosigkeit ermuntert hätten? Am Ende des zweiten Weltkrieges hatten wir geschworen, alles daranzusetzen, daß von deutschem Boden niemals mehr ein Krieg ausgeht. Wir waren gewillt, diese Verpflichtung unter allen Umständen einzulösen.

Es fehlte 1961 seitens der Staaten des Warschauer Vertrages nicht an Warnungen. Auf der Tagung ihres Politischen Beratenden Ausschusses Ende März 1961, an der auch ich teilnahm, war nachdrücklich auf die Gefahren hingewiesen, aber auch die Entschlossenheit bekundet worden, vor dem aggressiven Druck des Imperialismus nicht zurückzuweichen. Nicht minder eindringlich hatte die DDR die Gefährdung des Friedens in Europa aufgedeckt, die 1961 entstanden war. Noch am 6. Juli 1961 hatte unsere Volkskammer mit dem "Deutschen Friedensplan" der Regierung der BRD und dem Senat von Berlin-West zahlreiche Verständigungsvorschläge unterbreitet. Allerdings schienen maßgebliche Politiker in Bonn und Berlin-West der irrigen Meinung zu sein, diese Verständigungsbereitschaft sei ein Zeichen von Schwäche, die DDR verfüge über keine wirksamen Mittel, um den Machenschaften der kalten Krieger erfolgreich zu begegnen.

Vom 3. bis zum 5. August 1961 fand in Moskau eine Beratung der Ersten Sekretäre der Zentralkomitees der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Vertrages statt, der auch Vertreter von Bruderparteien aus anderen sozialistischen Ländern Asiens beiwohnten. Im Einvernehmen mit der KPdSU schlug die SED vor, die Grenzen der DDR gegenüber Berlin-West und der BRD unter die zwischen souveränen Staaten übliche Kontrolle zu nehmen. Diesem Vorschlag stimmte die Moskauer Beratung einmütig zu.

Vom damaligen Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Walter Ulbricht, wurde mir die Vorbereitung und Durchführung der hierfür erforderlichen Aktion übertragen. Die notwendigen Maßnahmen und die Entwürfe 1er Einsatzbefehle für die Nationale Volksarmee, die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit und des Ministeriums des Innern, für die Bereitschaftspolizei, die Volkspolizei und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse sowie die Anweisungen für ile zentralen staatlichen Institutionen, für das Verkehrswesen, das Bauwesen und andere wirtschaftsleitende Organe wurden ausgearbeitet. Später konnten wir befriedigt feststellen, daß wir nichts Wesentliches unberücksichtigt gelassen hatten.

Zur unmittelbaren Leitung der Operation richtete ich meinen Stab im Berliner Polizeipräsidium ein. Dort stand ich in ständiger Verbindung mit den Kommandeuren und Stäben der bewaffneten Kräfte, den Bezirksleitungen der SED Berlin, Frankfurt an der Oder und Potsdam, den zentralen Staatsorganen, dem Berliner Magistrat und den Räten der Bezirke Frankfurt an der Oder und Potsdam.

Am 11. August 1961 erklärte die Volkskammer der DDR, daß eine ernste Gefahr für den Frieden in Europa besteht. Sie beauftragte den Ministerrat der DDR, alle Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die zur Sicherung des Friedens notwendig sind. Daraufhin faßte der Ministerrat am folgenden Tage den Beschluß, die noch offene Grenze zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Europa unter zuverlässige Kontrolle zu nehmen.

Als ich am Nachmittag des 12. August 1961 zum Döllnsee fuhr, sah ich beiderseits der Straßen, daß sich die Motorisierten Schützenverbände unserer Volksarmee schon in ihren Bereitstellungsräumen befanden. Um 16.00 Uhr unterzeichnete der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Walter Ulbricht, die von uns vorbereiteten Befehle für die Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze der DDR zu Berlin-West und zur BRD. Am späten Abend, eine Stunde vor Beginn der Operation, trat der von mir geleitete Stab im Berliner Polizeipräsidium zusammen. Anwesend waren die Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der SED Willi Stoph, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, und Paul Verner, die Mitglieder des Zentralkomitees der SED Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung, Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, Karl Maron, Minister des Innern, und Erwin Kramer, Minister für Verkehrswesen, sowie Willi Seifert, Stellvertreter des Ministers des Innern, Fritz Eikemeier, Präsident der Volkspolizei Berlin, und Horst Ende, Leiter des Stabes des Ministeriums des Innern. Um 0.00 Uhr wurde Alarm gegeben und die Aktion ausgelöst. Damit begann eine Operation, die an dem nun anbrechenden Tag, einem Sonntag, die Welt aufhorchen ließ.

Gemäß den Einsatzbefehlen rückten die Verbände der Nationalen Volksarmee und die Bereitschaften der Volkspolizei in die ihnen zugewiesenen Abschnitte. Auch die Kampfgruppen in Berlin und in den an Berlin-West grenzenden Bezirken Potsdam und Frankfurt an der Oder bezogen ihre festgelegten Einsatzpunkte. Unsere bewaffneten Kräfte erhielten von den in der DDR stationierten sowjetischen Streit-kräften Unterstützung, deren Oberbefehl am 10. August 1961 Marschall der Sowjetunion I. S. Konew übernommen hatte.

An diese spannungsgeladenen Tage und Stunden erinnert sich Heinz Hoffmann, seit Juli 1960 Minister für Nationale Verteidigung der DDR: "Ich weiß noch, wie wir damals die Stäbe und Verbände der Volksarmee - durch bestimmte Truppenbewegungen getarnt - heranführten. Erich Honecker rief mich nachts an, gab mir die ´X-Zcit´ und sagte: ´Die Aufgabe kennst du! Marschiert!´ Wir waren kaum an der Grenze, da war auch Erich Honecker da und überzeugte sich, ob unsere Panzer und anderen Einheiten an der richtigen Stelle standen. Er sprach nicht nur mit mir und anderen leitenden Offizieren, sondern - wie das seine Gewohnheit ist - an Ort und Stelle mit den Soldaten und erläuterte ihnen, warum wir diese Maßnahmen durchführen mußten."

Binnen weniger Stunden war unsere Staatsgrenze rings um Berlin-West zuverlässig geschützt. Ich hatte vorgeschlagen, direkt an der Grenze die politische und militärische Kampfkraft der Arbeiterklasse einzusetzen, das heißt Werktätige aus sozialistischen Betrieben in den Uniformen der Kampfgruppen. Sie sollten mit Bereitschaften der Volkspolizei unmittelbar die Grenze zu Berlin-West sichern. Falls es notwendig werden sollte, hatten die Truppenteile und Verbände der Nationalen Volksarmee und die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit sie aus der zweiten Staffel zu unterstützen. Nur bei einem etwaigen Eingreifen der NATO-Armeen sollten die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte in Aktion treten.

Wie der Verlauf der Ereignisse bestätigte, bestanden die bewaffneten Kräfte der DDR ihre Bewährungsprobe hervorragend. Dennoch war dies keine rein militärische Operation. Vielmehr erforderten die Sicherungsmaßnahmen umfangreiche politische, ideologische, wirtschaftliche und organisatorische Aktivitäten. Wir hatten - ohne zunächst in aller Öffentlichkeit über konkrete Aufgaben sprechen zu können - die gesamte, damals von Paul Verner geleitete Berliner Parteiorganisation der SED mobilisiert. Innerhalb von Stunden war das Berliner Verkehrsnetz umzustellen und der Stadtbahn- und Untergrundbahn-Verkehr von und nach Berlin-West zu unterbrechen. Das konnte nur gelingen, wenn die Werktätigen der Reichsbahn und der Berliner Verkehrsbetriebe im Vertrauen auf ihre Arbeiterpartei und Arbeiterregierung alle Anweisungen diszipliniert verwirklichten, und das taten sie. Obwohl Tausende Werktätige zum Schutz der Staatsgrenze aufgezogen oder als Agitatoren tätig waren, mußte der 14. August 1961 in der Hauptstadt zu einem Montag mit guten Produktionsergebnissen werden. Die Stadt wollte versorgt sein wie gewohnt. Das Leben sollte so normal wie möglich weitergehen.

Ich kann mir denken, daß in den Stäben der NATO und der Bundeswehr recht gut verstanden worden ist, welche Kraft einheitlichen Handelns hinter solchen Maßnahmen wie denen vom 13. August 1961 stand. Nur gemeinsam mit zahllosen freiwilligen Helfern und getragen vom Verständnis der überwältigenden Mehrheit der Werktätigen ließ sich eine solche Operation bewerkstelligen. Deshalb zeigte sich in diesen Augusttagen nicht nur unsere militärische Kraft, sondern auch die Stärke unserer sozialistischen Ordnung, die Überlegenheit unseres politischen Systems. Man mag daran im Nachhinein herumzudeuteln versuchen, wie man will - eines bleibt unverrückbare Tatsache: Trotz des beträchtlichen Umfangs der vorbereitenden Maßnahmen, die für das Gelingen erforderlich waren, kam die Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls für unsere Gegner völlig überraschend. Dabei hatten über die offene Grenze ausländische Geheimdienste nahezu ungehindert Spionage und Aufklärung in der DDR betreiben können. Es gelang auch nirgends, ernsthafteren Widerstand gegen unsere Aktion zu organisieren.

Wiederholt bin ich gefragt worden, ob wir seinerzeit bewußt das Risiko eines großen Krieges eingegangen wären. Wir hatten berechtigten Grund zu der Annahme, daß es der NATO nicht möglich sein würde, eine derartige Aktion, die sich ja ausschließlich auf unserem Territorium vollzog, mit einer militärischen Aggression zu beantworten. Unsere Informationen besagten, daß sich die USA, die Hauptmacht der NATO, ohne die ein militärisches Vorgehen nicht denkbar war, in bezug auf Berlin-West von eindeutigen Interessen leiten ließ. Das waren: unveränderter Status von Berlin-West, Anwesenheit der drei Westmächte in Berlin-West, sicherer Verkehr zwischen Berlin-West und der BRD. Keines dieser Interessen wurde durch unsere Grenzsicherungsmaßnahmen verletzt. Daß die Staaten des Warschauer Vertrages den Status von Berlin-West als eines besonderen politischen Territoriums respektierten, hatten die Westmächte Anfang August 1961 der Mitteilung über die Beratung der Ersten Sekretäre unserer Zentralkomitees entnehmen können. Unsererseits war also kein Anlaß zu einem militärischen Eingreifen der NATO gegeben worden. Und noch etwas: Wir unternahmen keine andere Aktion als leder andere unabhängige, souveräne Staat. Lediglich nahmen wir unsere Grenze gemäß dem damals wie heute von der Organisation der Vereinten Nationen verbrieften Völkerrecht unter Kontrolle. Damit wurde der Frieden gerettet und der Grundstein für das weitere Aufblühen der Deutschen Demokratischen Republik gelegt.

Auch in den Tagen und Wochen nach dem 13. August 1961 war ich wiederholt bei unseren Kampfgruppenmitgliedern, Volkspolizisten und Soldaten an der Staatsgrenze. Ich erläuterte ihnen die Notwendigkeit und Bedeutung unserer Sicherungsmaßnahmen und überbrachte ihnen den Dank des Zentralkomitees und der Regierung. Ich sorgte auch mit dafür, daß die Bevölkerung Berlins und der Bezirke Frankfurt an der Oder und Potsdam, insbesondere die Arbeiter, Frauen und Jugendlichen, engen Kontakt zu den an der Grenze stationierten Mitgliedern der Kampfgruppen, den Angehörigen der Volkspolizei und der Volksarmee hielten.

Die ganze Tragweite des 13. August 1961 mag mancher erst so recht in den folgenden Jahren verstanden haben. Sein Einfluß reicht bis in unsere Gegenwart. Schon in den Ausgangsstellungen waren die Versuche zum Scheitern gebracht worden, die Arbeiter-und-Bauern-Macht der DDR in einer "begrenzten Aktion" zu beseitigen. Von der Adenauerschen "Politik der Stärke" war ein Scherbenhaufen übriggeblieben. Nicht zufällig sprach man in der BRD im Zusammenhang mit dem 13. August 1961 vom Ende der "Ära Adenauer". Auch Politiker, die nicht gerade zu unseren Freunden zählen, stellten schon vor Jahren fest, daß mit unserer Aktion dem Frieden auf deutschem Boden und damit in Europa ein guter Dienst erwiesen worden war.

Ohne Zweifel verhalf der 13. August 1961 maßgeblichen Kreisen des Westens zu Einsichten, gegen die sie sich länger als ein Jahrzehnt gesträubt hatten. Der souveräne sozialistische deutsche Staat war weder zu erpressen noch zu überrennen. So trug der 13. August 1961 dazu bei, Voraussetzungen zu schaffen für eine spätere Abkehr vom kalten Krieg, von der Konfrontation hin zu Verhandlungen und zu ersten Entspannungsschritten. Aus meiner Sicht führte dieser Weg zur Schlußakte von Helsinki, die insbesondere die Anerkennung der in Europa bestehenden Grenzen und ihre Unverletzlichkeit bekräftigte.

Die Grenze zwischen der DDR und der BRD, der DDR und Berlin-West ist zugleich die Scheidelinie zwischen zwei entgegengesetzten Weltsystemen und militärischen Bündnissen. Niemals soll sie zu einer den Frieden gefährdenden "brennenden Grenze" werden. Vor allem deshalb erfüllt es mich immer mit Genugtuung, wenn Sachkenner und realistisch denkende Politiker der westlichen Welt unsere Einschätzung teilen, welch förderliche Wirkung für Frieden und Entspannung von den Maßnahmen des 13. August 1961 ausgegangen ist.


Erich Honecker: "Aus meinem Leben", Kapitel 16, S. 197 ff. (Dietz-Verlag Berlin 1980, 12. Auflage 1987)


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