Zum 40. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer

Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS

Die Ereignisse des August 1961 haben sich tief in die Erinnerung der Zeitgenossen eingegraben. Ihre Nachwirkungen sind bis heute deutlich zu spüren. Rechtfertigung und Stigmatisierung bestimmen nach wie vor die Auseinandersetzung. Die spektakulären Grenzsicherungsmaßnahmen galten den einen als unumgänglicher Akt der Friedenssicherung, den anderen als endgültiger Vollzug der Spaltung Deutschlands. Für Tausende von Menschen bedeutete die hermetische Abriegelung der Grenzen die jahrelange Trennung von Familienangehörigen und eine unzumutbare Beschränkung der Freizügigkeit. Die Berliner Mauer war ein Ergebnis der Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Die Opfer dieses Grenzregimes sind jedoch mit dem Verweis auf internationale Rahmenbedingungen und Sicherheitskonzepte keinesfalls zu rechtfertigen. Menschliches Leid verlangt Respekt und Nachdenklichkeit.

Obwohl die historische Forschung Hintergründe, Zusammenhänge und Wirkungen des 13. August 1961 hinreichend untersucht und beschrieben hat, verharren Politik und Medien weiter in liebgewordenen Klischees. Notwendig ist aber eine sachkundige und kritische Auseinandersetzung mit diesem Ereignis, seinen Ursachen und Folgen.

Am 13. August 1961 um 1.05 Uhr erloschen am Brandenburger Tor die Lichter, Grenzpolizisten und Betriebskampfgruppen zogen auf, blieben auf den Zentimeter genau an der Sektorengrenze stehen, stellten spanische Reiter auf und errichteten Stacheldrahtbarrieren. Einheiten der Grenz- und Volkspolizei, Angehörige der Kampfgruppen, des Ministeriums für Staatssicherheit, der Transportpolizei, des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs und des Luftschutzes sowie zwei Motschützendivisionen der Nationalen Volksarmee (NVA) als zweite Sicherungsstaffel - unterstützt von in Alarmstufe 1 versetzten Einheiten der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) - erfüllten die ihnen gestellten Aufgaben. Die Männer verstanden dies als Friedensmission und Schutz ihrer Heimat. In wenigen Stunden wurden 45 Kilometer Sektorengrenze in Berlin sowie 160 Kilometer Grenze zum Umland von Berlin-West abgeriegelt, der S-, U- und Straßenbahnverkehr unterbrochen, Straßen in der Stadt aufgerissen. Gegen 6 Uhr war die Operation beendet. Am Morgen konnten die Bürger in der Presse den Entschluss der Staaten des Warschauer Vertrages lesen, "an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und... eine verlässliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird".

Der 13. August hatte jedoch die deutsche Teilung nicht verursacht. Sie wurde auch nicht erst an diesem Tag vollzogen. Die Spaltung Deutschlands war die selbstverschuldete Folge des vom Deutschen Reich vom Zaune gebrochenen Zweiten Weltkrieges. Sie wurde durch die Besatzungsmächte im Zusammenspiel mit deutschen Politikern während des Kalten Krieges Schritt für Schritt vorangetrieben.

Vom 13. August an blieb das letzte, fast problemlos zu passierende "Schlupfloch" in den Westen via Berlin-West verschlossen. Stacheldraht und eine wachsende Mauer teilten die Stadt. Grenzdurchbrüche und der erste tödliche Schuss folgten wenige Tage später. Die Westberliner sahen sich regelrecht eingemauert. Selbst der Wochenendausflug wurde zum Problem. Empörung, Erbitterung und ein Gefühl der Ohnmacht prägten die Stimmung. Familiäre, kollegiale und freundschaftliche Verbindungen vieler Berliner waren gekappt worden. Mehrere Jahre lang bestanden keine Möglichkeiten, den Ostteil der Stadt zu besuchen. Von der DDR in Berlin-West eingerichtete Passierscheinbüros mussten auf westalliierte Anordnung im August 1961 sofort wieder schließen. Erst im Dezember 1963 unterzeichneten bevollmächtigte Vertreter der Regierung der DDR und des Senats von Berlin-West ein Passierscheinabkommen.

Mit den Maßnahmen zum 13. August wollte die Partei- und Staatsführung in einer Art Befreiungsschlag mit nicht mehr beherrschbaren Schwierigkeiten fertig werden. Was als Sieg gefeiert wurde, war in Wahrheit eine schwere Niederlage in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden. Es erwies sich als unmöglich, die Abwanderung von Bürgerinnen und Bürgern mit anderen Mitteln einzudämmen. Unter ungleich schwierigeren Voraussetzungen konnte die DDR zunächst auf bemerkenswerte Aufbauleistungen verweisen. Bis in die frühen fünfziger Jahre unterschied sich der durchschnittliche Lebensstandard kaum von dem der Bundesrepublik. Doch Kampagnen, die Bauern und Handwerker in die Genossenschaften nötigen sollten, eine wiederholt schikanöse Behandlung gläubiger Christen, die Repressalien gegen kritische Intellektuelle und letztlich die fortwährende Verweigerung politischer Grundrechte machten vielen Bürgerinnen und Bürgern das Leben in der DDR unerträglich. Dem westdeutschen Wirtschaftswunder konnte die DDR auf Dauer nichts gleichwertiges entgegensetzen. Das 1958 verkündete Ziel, im Pro-Kopf-Verbrauch aller wichtigen Lebensmittel und Konsumgüter mit der BRD gleichzuziehen, erwies sich als illusionär. Der Einfluss von Berlin-West, das sich selbst als "Frontstadt" und "Pfahl im Fleische der DDR" definierte und als Basis für Geheimdienste sowie als Schaufenster und Brückenkopf für Warenschmuggel und Währungsgeschäfte fungierte, machte sich immer stärker bemerkbar. Von 1956 bis zum Sommer 1961 verlor die DDR anderthalb Millionen Menschen. Nicht zum Schutz gegen einen angeblich drohenden Einmarsch der Bundeswehr, sondern gegen den Exodus der eigenen Bürger wurde ein Wall gebraucht. Chruschtschow gegenüber leistete Ulbricht den Offenbarungseid: Bei weiterhin offener Grenze ist der "Zusammenbruch unvermeidlich". Doch stand eine Selbstaufgabe der DDR nicht zur Debatte - und schon gar nicht zur Disposition deutscher Politiker, denn die DDR war "der westliche Vorposten des sozialistischen Lagers", wie Anastas Mikojan, der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, feststellte.

Im November 1958 hatte die Sowjetunion die Westmächte dazu aufgefordert, in Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland einzutreten, der zum Abzug der Siegermächte aus Berlin führen sollte. Notfalls, so hieß es aus Moskau, würde die Sowjetunion allein einen solchen Vertrag mit der DDR abschließen und den Vier-Mächte-Status Berlins liquidieren. Der durch das sowjetische Ultimatum abermals verschärfte Ost-West-Konflikt verstärkte auch die Verunsicherung in der DDR und gab der Republikflucht zusätzlichen Auftrieb.

Am 3. und 4. Juni 1961 trafen sich Ministerpräsident Chruschtschow und Präsident Kennedy in Wien. Es kam zur Konfrontation gegensätzlicher Standpunkte. Beide Staatsmänner gaben zu verstehen: "Bis hierher und nicht weiter!" Kennedy fixierte Essentials der USA: Weitere Präsenz der Westmächte in Berlin-West und freier Zugang für sie. Beide Staatsmänner bekundeten ihren Willen zum Frieden und schieden mit der wechselseitigen Drohung, notfalls militärische Gewalt anzuwenden. Westliche Notfallpläne gingen nun bis zum Einsatz atomarer Waffen.

Die endgültige Entscheidung für die Sperrmaßnahmen der DDR trafen die Partei- und Regierungschefs der Staaten des Warschauer Vertrages Anfang August 1961 in Moskau. Im Stab von Kennedy war man sich nach dem 13. darüber einig, dass die Berliner Mauer "unmoralisch und unmenschlich" ist, aber "dennoch keinen Kriegsgrund" darstellt. Das entsprach dem damaligen Kräfteverhältnis. Die Mauer fixierte den Status quo in Europa, an dessen Erhalt beide Seiten zunächst interessiert waren, und trug so zur Stabilisierung der weltpolitischen Lage und zur Friedenssicherung bei. Insofern eröffnete der Mauerbau Möglichkeiten der Entspannung unter den Bedingungen des fortdauernden Kalten Krieges. Es wuchs die Einsicht, dass die neue Situation nicht gewaltsam zu verändern war. Auf dieser Basis konnte eine schrittweise Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen angebahnt werden. Zugleich drehte sich die Spirale der Hochrüstung auf beiden Seiten weiter.

Nach dem 13. August wurde die Grenze zügig pioniermäßig ausgebaut, die Grenzsicherung immer tiefer gestaffelt sowie die Grenzkreise um Berlin und an der Staatsgrenze zur BRD (hier bereits zum zweiten Male) "gesäubert". In einer geheimen Verschlusssache vom September 1961 wies Marschall Konew, 1961/62 Oberkommandierender der GSSD, die "Errichtung eines strengen Grenzregimes" an sowie die Aussiedlungen, den technischen Ausbau in den "hauptsächlichen Grenzverletzerrichtungen" mit Drahtsperren und Minenfeldern und die Präzisierung der Dienstanweisungen für die Anwendung von Waffengewalt an der Westgrenze. Mit der Umwandlung der Grenzpolizei in Grenztruppen (September 1961) und der Eingliederung der Berliner Grenzbrigaden (August 1962) in das Ministerium für Nationale Verteidigung wurde die Mauer-Grenze in die bereits seit 1952 nach sowjetischem Muster gestaltete und mit militärischen Mitteln gesicherte Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland integriert. Obwohl an der Mauer auf Minenfelder und Selbstschussgeräte verzichtet wurde, gehörte sie wie die Grenze zur Bundesrepublik zu einem besonderen militärischen Sperrgebiet, das "von der Führung der Sowjetunion als eine Grenze zwischen zwei sich feindlich gegenüberstehenden militär-politischen Blöcken betrachtet und behandelt" wurde, wie Marschall Kulikow unlängst bestätigte. So waren an der Grenze zur Bundesrepublik 60 Prozent der sowjetischen Truppen in der DDR und 80 Prozent ihrer Großwaffensysteme stationiert.

Auf den Grenzsoldaten der NVA lastete eine hohe militärische und politische Verantwortung, aber auch ein moralischer Druck. Zehntausende DDR-Bürger versuchten Grenzdurchbrüche, die Mehrzahl von ihnen wurde festgenommen und verurteilt, Hunderte fanden den Tod, darunter auch Grenzsoldaten. Die Angehörigen der Grenztruppen unterlagen einer doppelten Kontrolle: durch ihre militärischen Vorgesetzten und durch Beauftragte der Staatssicherheit. Sie hatten sich für den Gebrauch wie für den Nichtgebrauch der Schußwaffe zu rechtfertigen. Um so höher sind die Umsicht und die Besonnenheit zu bewerten, die Kommandeure und Unterstellte während der sich überstürzenden Ereignisse bei der Maueröffnung im November 1989 bewiesen.

Im Windschatten der Mauer unternahm die SED Reformversuche zur inneren Stabilisierung der DDR. Kernstück war das Neue ökonomische System, das eine partielle Modernisierung ermöglichen sollte. Reformansätze scheiterten, weil die SED nicht mit stalinistischen Formen und Methoden grundsätzlich brach. Trotz der Grenzschließung hatte die SED immer noch eine gesamtdeutsche Perspektive, so dass schließlich auch deutsch-deutsche Gespräche auf Regierungsebene möglich wurden. Die internationale Anerkennung der DDR, das Vertragswerk der frühen siebziger Jahre, besonders das Vierseitige Abkommen über Berlin (September 1971) und der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR (Dezember 1972) sowie der Helsinki-Prozess (1973-1975) boten Voraussetzungen, das Grenzregime zu humanisieren. Familienzusammenführungen und Rentnerreisen hätten zur umfassenden gesetzlichen Regelung der Aus- und Einreise aller DDR-Bürgerinnen und Bürger ausgebaut werden können und müssen. Doch fürchtete die Partei- und Staatsführung zu sehr um ihre Macht. Verinnerlichte Feindbilder und Parteidisziplin setzten die Masse der SED-Mitglieder außerstande, Verstößen gegen Bürger- und Menschenrechte, der Entartung des sozialistischen Gesellschaftsideals und den praktizierten Sicherheitsdoktrinen kritisch entgegenzutreten. Hierin liegt ihre Mitverantwortung.

Die Wirkungen des Mauerbaus waren innen- wie außenpolitisch ambivalent. Während Teile der DDR-Bevölkerung sich angesichts der alternativlosen Lage in "Nischen" zurückzogen bzw. anpaßten und "einrichteten", hegten nicht Wenige die Hoffnung, der Sozialismus könne nun ohne Störungen von außen seine Vorzüge entfalten. Der Resignation und Verzweiflung stand eine Aufbruchstimmung gegenüber, die ihren Niederschlag u. a. in der "Ankunftsliteratur" fand. Außenpolitisch ebnete der Mauerbau indirekt den Weg zur internationalen Anerkennung der DDR und zu Verträgen, die das Verhältnis zwischen beiden Systemen schrittweise entkrampften. Der Schock vom August 1961 und die Kubakrise des folgenden Jahres machten beiden Supermächten deutlich, wo die Grenzen ihrer Macht und ihres Durchsetzungsvermögens lagen. Als "Jahrhundertbauwerk" deklariert, wurde die Mauer aber letztlich zu einem Kainsmal, das die DDR auf internationalem Parkett isolierte und die sozialistische Idee diskreditierte.

Die Mauer blieb bis 1989 stehen. Sie wurde mehr und mehr zum untrüglichen Indiz gesellschaftlicher Stagnation. Den erneuten massenhaften Ausbruch aus dem, was vielen Bürgerinnen und Bürgern, vor allem jüngeren, zum Gefängnis geworden war, konnte sie am Ende nicht mehr verhindern. Im Schatten der Mauer verkümmerte auch die Gesellschaft, die durch sie geschützt werden sollte.

Berlin, den 26. Juni 2001


(Diese Erklärung wurde von Wilfriede Otto vorbereitet, von der Historischen Kommission am 23. Juni beraten und vom Sprecherrat am 26. Juni 2001 verabschiedet.)


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